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Gestern und Heute

Gemeinsam mit meiner Mutter archiviere ich seit einiger Zeit die Briefe meiner Großeltern aus der Zeit 1939-45. Mein Opa wurde gleich zu Kriegsbeginn eingezogen und war, abgesehen von wenigen Urlaubswochen, bis zum bitteren Ende von zu Hause weg. Es gibt also eine Menge zu tun, denn da das Briefeschreiben die einzige Kommunikationsmöglichkeit war, sind mehr als tausend davon zu sortieren und einzutippen - ein Großteil davon in alter deutscher Schrift verfasst. 

Unsere Idee ist, nachfolgenden Generationen einen Blick in ein ‚normales Leben‘ in Kriegszeiten zu ermöglichen. Bei der Fülle an Briefen ist es selbstverständlich, dass nicht alle wahnsinnig spannend sind, trotzdem lohnt die Lektüre. Einige beschreiben die Nöte einer jungen Frau, die nach der Geburt ihres Kindes, also meiner Mutter, im Jahr 1940 allein zurechtkommen muss, andere den Frust, weil der Heimaturlaub meines Opas immer und immer wieder verschoben wird. Bewegend ist auch, wie meine Oma immer wieder berichtet, dass der Bürgermeister im Dorf Todesnachrichten überbrachte. Wie groß dürfte wohl ihre Angst gewesen sein, ob er nicht eines Tages auch auf ihr Haus zugehen würde. Gerade im Moment, wo wir uns mit Corona in einer schwierigen Zeit befinden, bringt mich die Lektüre immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurück und lässt die eine oder andere Einschränkung in einem anderen, meist weniger dramatischen Licht erscheinen. 

Mein Opa wurde viel rumgeschickt. Unter anderem war er in Frankreich, Belgien, Polen und Tschechien. Als Gefreiter der Deutschen Wehrmacht war er Teil einer Besatzungsmacht, die sich anmaßte, diese Länder für sich zu beanspruchen. Ich finde es bemerkenswert, dass es nach 75 Jahren selbstverständlich ist, dass ich mit Musikern dieser und vieler weiteren Nationen in einem Orchester spiele. Nationen, gegen die Deutschland damals Krieg führte. Unser Musizieren beweist, dass es möglich ist, aus unterschiedlichen Nationalitäten eine Einheit zu bilden und gemeinsam etwas Positives entstehen zu lassen. Tun wir alles, damit es so bleibt und lassen wir nicht zu, dass irgendwelche Dummköpfe diese Errungenschaften zunichte machen. 

Weihnachten wird in diesem Jahr vielleicht etwas anders sein als sonst. Besonders froh bin ich, diese Zeit mit meiner Familie verbringen zu können. Meinem Opa war das mehrere Jahre verwehrt. In einem besonders eindrucksvollen Brief erzählt er, wie er 1944 mit einigen Kameraden bei einer polnischen Familie zu deren Weihnachtsfeier eingeladen war. Es gab ein liebevoll zubereitetes fleischloses 6-Gänge-Menu. So konnte der spürbare Schmerz, von der eigenen Familie getrennt zu sein, wenigstens etwas gelindert werden. 

Ist das nicht ein schönes Beispiel für den eigentlichen Sinn von Weihnachten? Mich erinnert es daran, auch für kleine Dinge dankbar zu sein. In diesem eigenartigen Corona-Jahr vielleicht ganz besonders.  

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