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Routine

Vielleicht stellen Sie sich die Frage, ob ich nach drei Jahrzehnten im Orchester in eine berufliche Routine verfallen bin. Ob also der Berufsalltag tatsächlich als ‚alltäglich‘ empfunden wird, verbunden mit einer Art Eintönigkeit - übrigens ein interessanter Begriff, wenn man über Musik nachdenkt.

Ich kann diese Frage deutlich mit einem Nein beantworten. Als Routine empfinde ich meinen Beruf nicht. Vielmehr ist es so, dass ich immer mehr von meiner Erfahrung zehren kann. So muss ich nicht mehr nachdenken, ob ich eine Bruckner- oder Mahler-Sinfonie durchhalte. Ich muss die meisten Stücke auch nicht mehr vorbereiten, weil ich sie aufgrund der stetigen Wiederholung verinnerlicht habe. Auch habe ich während des Spielens mehr Zeit zum Zuhören, weil ich nicht mehr so sehr mit der eigenen Stimme beschäftigt bin wie bei Berufsbeginn. Natürlich gibt es Augenblicke der Langeweile in Proben und auch in manchen Konzerten. Diese sind aber so selten, dass sie nicht wirklich der Rede wert sind. 

Übrigens verwende ich eh lieber den Begriff Erfahrung als das Wort Routine. Erfahrung geht mit Entwicklung einher, Routine nicht.

In Bezug auf den Krieg in der Ukraine stelle ich mir gelegentlich die Frage, ob sich bis zum Erscheinen dieser Kolumne nicht eine gewisse Routine in der Wahrnehmung des Krieges eingestellt haben wird. Natürlich hoffe ich aus ganzem Herzen, dass der Krieg bis dahin beendet ist. Wirklich davon ausgehen tue ich aber nicht. Braucht es also immer wieder irgendwelche Schreckensnachrichten, damit ich nicht in eine ‚Kriegsbeobachtungsroutine‘ verfalle? 

Ich denke und hoffe nicht. Vielmehr sehe ich es als Aufgabe der Gesellschaft und von mir selbst, mich immer wieder mit dem auseinanderzusetzen, was geschieht, mich zu informieren, darüber etwas zu lesen, zu hören oder etwas anzusehen. So wie sich mir beim häufigen Spielen einer Sinfonie immer mehr Facetten der Musik erschließen und ich die Intension des Komponisten besser verstehe, ist es wichtig, die Ursachen und Zusammenhänge dieses Krieges zu verstehen. Dafür gibt es einen wichtigen Grund: Die Gesellschaft (und ich als deren Mitglied) muss in Zukunft Möglichkeiten finden, Kriege zu verhindern.

In Deutschland haben wir als Informationsquelle eine hervorragende Medienlandschaft, angefangen von den Öffentlich-Rechtlichen bis hin zu den vielen unabhängigen Tages- und Wochenzeitungen, den Zeitschriften und sonstigen Informationsquellen. 

Auch hier finde ich einen Vergleich von Musik und Medien ganz passend.

Der Notentext entspricht den Fakten, das Suchen nach musikalischen Inhalten der Recherche, und die Interpretation der Meinung. Musikerinnen und Journalisten dürfen hier weder beliebig handeln, noch schlampig, ungenau oder noch schlimmer, einseitig manipulierend. Interpretation und Meinung müssen authentisch sein, basierend auf fundiertem Wissen. Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit sind für beide Bereiche also die wichtigsten Voraussetzungen. Wie schön, dass wir in der Musik und im Journalismus eine Vielzahl an Menschen haben, die diese Werte ernst nehmen. Möglich ist dies, weil wir in einer freiheitlichen Gesellschaft leben. 

Was für ein Privileg!

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Kommentare: 1
  • #1

    Alexandra (Sonntag, 01 Mai 2022 17:49)

    Wieder eine sehr gute Kolumne, lieber Ulli.

    Liebe Grüße, Alexandra