Im Moment beschäftigen wir uns mit einer Vielzahl von Krisen. Der Krieg in der Ukraine ist wohl die dramatischte, Corona ist nach wie vor nicht überstanden, es gibt Lieferengpässe in allen Bereichen, zu wenig Fachkräfte, und, und, und ...
Dazu gibt es noch die persönlichen Krisen, die jeder von uns mehr oder weniger intensiv erlebt, oder besser gesagt durchleben muss. Sie sind gesamtgesellschaftlich weniger relevant, für den jeweiligen Menschen aber ein tiefgehender Einschnitt.
Gerade durfte ich eine spannende Masterarbeit von Alexander Egger lesen, die sich mit Krisen bei Blechbläser*innen beschäftigt. Alexander studiert Posaune an der Basler Musikhochschule und hat diese Arbeit im Fach Musikpädagogik verfasst. Als 17-jähriger erlebte er eine Krise und hat sich nach der Überwindung derselben intensiv mit der Thematik beschäftigt. Im Zuge seiner Recherche führte ich ein Gespräch mit ihm, basierend auf meinen persönlichen Erfahrungen. Bei mir war es eine derjenigen Krisen, die Berufsmusiker relativ häufig trifft, nämlich eine Phase massiver Auftrittsangst. Auch ich habe diese Krise durchlebt und bin gestärkt aus ihr hervorgegangen. Die Auseinandersetzung mit den Ursachen und auch die Schritte, wie ich sie bewältigt habe, würden den Rahmen dieser Kolumne sprengen. Ich will daher auf einen einzelnen Aspekt der Arbeit von Alexander Egger eingehen, der für mich ein neuer interessanter Denkanstoß war, nämlich die Bedeutung des Wortes Krise.
Das Wort kommt vom griechischen „krísis“ und wird laut Duden mit „Entscheidung“ übersetzt. Wird das Wort ins Chinesische übersetzt, besteht es sogar aus zwei Schriftzeichen, eines steht für „Chance“, das andere für „Gefahr“.
Erstaunlich, was diese Begrifflichkeiten im eigenen Denken auslösen. Natürlich denkt man bei einer Krise daran, dass sie für die Betroffenen eine Gefahr darstellt, fast immer sogar eine existentielle. Die Begriffe ‚Entscheidung‘ und ‚Chance‘ haben in Krisenzeiten vermutlich aber nur sehr abgeklärte Menschen im Kopf.
In der Nachbetrachtung ist das oft anders. Da zeigt sich, dass im Durchleben der Krise ein Moment der Entscheidung ausschlaggebend für die Bewältigung war, die Krise daher auch als Chance gesehen werden kann. Bei mir war es die Phase, in der es mir gelang, mein Unterbewusstsein von meinem Anspruch zur Perfektion zu lösen. Diese Entscheidung (und um eine solche hat es sich tatsächlich gehandelt) trug dazu bei, dass ich zu dem Musiker geworden bin, der ich immer sein wollte. Einer, der in innerer Freiheit zu musizieren in der Lage ist.
Freiheit. Ein weiterer Begriff, den ich in enger Beziehung zu Krisen sehe.
Lohnt es sich, für sie zu kämpfen? Darauf gibt es wohl keine einfache Antwort. Jeder muss das für sich persönlich entscheiden - und jede Nation für sich.
Für mich ist aber klar, dass mir als Musiker etwas Wesentliches vorenthalten geblieben wäre, hätte ich nicht um meine Freiheit gerungen (Der Begriff ‚kämpfen‘ wäre in diesem Fall unangemessen). Aus dieser Erfahrung heraus bin ich mir ziemlich sicher, dass ich die freiheitliche Gesellschaft, in der ich leben darf, gegen ein repressives System verteidigen würde. Ich hoffe, dass ich im Gegensatz zu den Ukrainern nie vor diese Entscheidung gestellt werde.
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Ursl und Heinrich (Samstag, 04 Juni 2022 11:03)
Lieber Uli,
Wieder einmal eine wunderbare Kolumne.Ich lese Sie immer mit großem Interesse. Deine Aspekte sind tiefgründige Denkanstöße. Auch bei mir waren die Krisen immer im Nachhinein ein Weiterkommen in der eigenen Persönlichkeit.
Ganz lieben Dank und herzliche Grüße
Ursl
veronika z. (Sonntag, 05 Juni 2022 10:24)
Danke lieber Uli,
Deine Zeilen kann ich sehr gut nachvollziehen.
Markus B. (Dienstag, 07 Juni 2022 22:40)
Lieber Uli,
sehr interessant, teile das absolut. Damit aus einer Krise eine echte Chance werden kann, ist aus meiner Sicht ein Neuanfang mit neuen Ideen ideal, um nicht den Weg zu wiederholen, der in diese Krise geführt hat. Das heißt zum Beispiel: Bei einer Krise auf dem Instrument nicht unbedingt wieder zum alten Lehrer gehen, sondern mal was Neues ausprobieren.