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Tradition

Heute möchte ich mich dem Begriff Tradition widmen, der sowohl im Blasmusikbereich als auch in den klassischen Orchestern als ziemlich wichtig erachtet wird. Große Orchester rühmen sich in der Regel, eine ureigene Tradition zu haben. Man ist Bruckner- oder Mahlerorchester, man hat einen besonderen Klang oder eine eigene Spielweise. Auch Blaskapellen sprechen von ihrer Tradition. Neben der Art zu spielen oder dem Kernrepertoire kann sie durch die Tracht, verschiedene Bräuche oder die Herkunft definiert sein. Prinzipiell ist es sehr gut, sich als Klangkörper oder Verein mit der eigenen Identität zu beschäftigen. Sie schafft die Basis, auf der man alle Bestrebungen aufbaut. Allerdings habe ich in verschiedenen Diskussionen festgestellt, dass Tradition oft als Argument verwendet wird, um Veränderungen zu verhindern. Wenn dem so ist, wird der Begriff meiner Ansicht nach missbraucht. Tradition ist nichts Starres. Sie braucht unbedingt und immer wieder neue Impulse mit anschließender Entwicklung. 

Sind Traditionen also überhaupt noch zeitgemäß?

Ich denke schon, sofern man anders mit ihnen umgeht. Beispielsweise wenn man den Begriff ‚Tradition‘ nicht mit konkreten Vorgaben verbindet, sondern mit Grundhaltungen, die ein Orchester oder einen Verein ausmachen. Wenn man Formulierungen wählt, die gedankliche Offenheit zulassen. Würde ich für mein eigenes Orchester sprechen, fällt mir der Begriff ‚Spielfreude‘ ein. Nach mittlerweile 30 Jahren bei den Philharmonikern haben sich Spielweise und Klang zum Teil erheblich verändert. Das ist auch gut so, denn neue Kolleginnen und Kollegen bringen neue Impulse ins Orchester, die ja vergeudet wären, würde man sie nicht aufnehmen. Was sich aber nicht verändert hat, und was ich immer schon gespürt habe – vom ersten Tag im Orchester bis heute – war, dass wir in den Konzerten immer mit größter Lust und Hingabe spielen. Diese Spielfreude ist also ein andauernder Wesenszug des Orchesters. Ich würde sagen sie ist eine Tradition der Münchner Philharmoniker. Der Begriff ist offen. Er lässt viel zu. Eines aber nicht, nämlich verbissen an Strukturen festzuhalten, die dieser Spielfreude abträglich wären. 

Denken wir also neu über unsere Traditionen nach. Suchen wir offene Begriffe, Grundhaltungen und Wesenszüge, die unser Orchester oder unseren Verein ausmachen. Betrachten wir nämlich den lateinischen Begriff ‚traditio‘, so ist eine seiner Bedeutungen das deutsche Wort ‚Übergabe‘. Wenn ich jemandem etwas übergebe, stelle ich es in seine Verantwortung. Er darf und soll damit umgehen, darf es bewahren, verändern und auch den aktuellen Gegebenheiten anpassen. Ich bin sicher: Je offener und flexibler Traditionen gedacht werden, desto lebendiger werden sie sein. 

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Kommentare: 3
  • #1

    Alexandra (Sonntag, 02 April 2023 18:47)

    Lieber Uli,

    eine wirklich lesenswerte Kolumne über Tradition. Da hast du vollkommen recht. Übrigens: auch ein sehr interessanter Interview in der Muh.

    Liebe Grüße,

    Alexandra

  • #2

    Werner (Sonntag, 02 April 2023 19:54)

    So sehen wir das auch! Sehr schön formuliert! Wer was Gutes erhalten will muss es vorsichtig weiterentwickeln. Oder um mit Wolf Biermann zu sprechen: Nur wer sich ändert bleibt sich treu.
    Herzliche Grüße aus der Westbahn von Wien nach München
    Werner und Margit

  • #3

    Anita (Montag, 03 April 2023 10:12)

    Lieber Uli,

    wirklich gut getroffen! Dein Artikel lässt sich in vielfältigerweise auf unterschiedlichste Vereine und Gemeinschaften übertragen, die ein gemeinsames Ziel verfolgen. Wobei neue Impulse nicht immer gleich positiv, besser gesagt, offen und wertfrei aufgenommen werden. Aber die Entwicklung zu Neuem ist ja auch oft ganz spannend.

    Viele Grüße aus Übersee Anita