Als ich neulich während einer unserer Tourneen im Zug saß, erlebte ich etwas, das mir in dieser Form neu war. Neben mir am Vierertisch saß ein junger Familienvater mit seiner Frau – auf dem Schoß seine kleine Tochter, die gerade laufen gelernt hatte. Klingt zunächst nicht besonders spektakulär, oder? Aber ich erkläre es gern:
Der junge Mann war Lahav Shani, unser designierter Chefdirigent. Und allein die Tatsache, dass ein Chefdirigent ganz selbstverständlich neben mir im Zug sitzt, war für mich etwas völlig Neues.
Bis vor Kurzem waren Dirigenten erhabene Maestros – und wurden auch so behandelt. Besonders auf Tourneen reisten sie separat, wurden in Limousinen chauffiert und wohnten grundsätzlich eine Hotelkategorie über dem Orchester. Ich begegnete meinen bisherigen Chefs auf Reisen eigentlich nur auf der Bühne oder bei offiziellen Empfängen. Natürlich konnte man, wenn man wollte, ein paar Worte wechseln – aber es herrschte stets eine gewisse Distanz. Wie anders sind die großen jungen Künstlerpersönlichkeiten heute!
Ein weiteres Beispiel: Lisa Batiashvili. Sie zählt zu den großartigsten Geigensolistinnen unserer Zeit. Auf der Tournee spielte sie mit uns das Beethoven-Violinkonzert. Abend für Abend stand sie beeindruckend souverän auf der Bühne und musizierte berückend schön. Im Zug saß Lisa eine Reihe hinter den Shanis und spielte eine ganze Weile mit deren Tochter. Sie hat darin Übung – ist sie doch selbst Mutter zweier Kinder. Und sie macht ebenso wenig Aufhebens um sich selbst wie Lahav.
Diese Unkompliziertheit hat übrigens keinerlei Einfluss auf die künstlerische Akzeptanz in der Arbeit mit dem Orchester. Es war wohl passend zur Zeit, dass Dirigenten als Maestros auftraten, die neue Künstlergeneration ist mir persönlich aber deutlich lieber. Wenn ich sehe, wie ein Chefdirigent hinter seinem Kind herläuft – so wie ich einst meinen Kindern hinterherlief – spüre ich eine menschliche Verbindung. Und aus dieser Verbindung entsteht eine große Bereitschaft, gemeinsam auf der Bühne das Beste zu geben.
Da es vermutlich vielen Orchestermitgliedern ähnlich geht, dürfte das eine gute Erklärung dafür sein, warum Konzerte mit dieser neuen Künstlergeneration eine besondere Qualität haben: Verbindung schafft Vertrauen – und Vertrauen schafft eine hochproduktive künstlerische Atmosphäre.
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